Run free, kleiner Drillinstructor

Letzter Schultag vor den Ferien. Die Kids haben alle Schulsachen im Toni und zusätzlich noch ein kleines Weihnachtsgeschenk: eine Leistungsüberprüfung. In der 1. Klasse. Wie bitte?

Ja ehrlich, das ist tatsächlich eine Überprüfung des aktuellen Leistungsstandes. Ohne weitere Infos wird das uns Eltern vor die Füße geworfen. Und das Ergebnis? Fast überall Nachholbedarf. Äh, ja natürlich. Das Kind ist Erstklässler?! Trotzdem hinterlässt es bei mir ein Gefühl von Unzulänglichkeit und der Notwendigkeit, sofort alles meinem Kind einzutrichtern. Weil auch ich in dieser Welt groß geworden bin. In einer Welt wo nur Leistung zählt und nach Defiziten gesucht wird. Zum Glück widerstehe ich dem Impuls, den Rest des Tages mit meinem Kind am Schreibtisch zu verbringen. Nicht zuletzt deshalb, weil mir andere Eltern aus der Klasse vom gleichen Ergebnis berichten. Das beruhigt etwas. Ich will garnicht wissen, wieviele andere Eltern ihre Kinder aber an Heiligabend durch das Buchstabenhaus geschleift haben.

Und in 2 Wochen Ferien geschieht, was ich nicht mehr für möglich gehalten hätte: mein Kind hat Spaß am Lernen. Fängt an, Geschichten zu schreiben und rechnet ganz selbstverständlich im Kopf. Fehlerfrei (bis auf die Grammatik natürlich). Und das ganz ohne Fließbandarbeit „Bitte schreibe 30 mal das H auf dieses Blatt.“ Sondern in der Freiheit, dass zu Lernen, was Spaß macht.

Und ich frage mich, warum es dem System Schule nicht gelingt, die wichtigste Fähigkeit überhaupt zu lehren: den Spaß am Lernen! Ist dies nicht die Grundlage von Allem was folgt und gibt Ausschlag darüber, ob Jemand erfolgreich die Schullaufbahn abschließt oder nicht? Die Antwort scheint für mich so klar wie bitter: das Schulsystem ist auf Defizite ausgerichtet und darauf, die perfekte Chefsekretärin auszubilden. Gehorsam, Angepasst, Ordentlich! In der Leistungsüberprüfung hätte ja auch stehen können: Dies und Das kann ihr Kind schon besonders gut. Hier und da könnte es noch etwas üben. Diese und ähnliche Geschichten höre ich derzeit von einigen Erstklässler-Eltern unterschiedlicher Schulen. Es scheint also ein weit verbreitetes Phänomen zu sein.

Übrigens ignoriert solch eine defizitorientierte Leistungsrückmeldung alles, was wir über Feedback wissen. In der Wirtschaft ist das mittlerweile einigermaßen angekommen und die meisten Arbeitnehmer müssen im Feedbackgespräch zum Glück nicht mehr erwarten, dass ein Shitstorm über sie reinbricht. Wie würden wir Erwachsene uns fühlen, wenn unser Chef uns gnadenlos vor den Latz knallen würde, was wir alles nicht können und was nicht gut ist?! Obwohl wir uns wirklich Mühe gegeben haben.

Wir wissen heute, dass ressourcenorientiertes Lernen viel erfolgsversprechender ist als defizitorientiertes. Wir wissen, dass wir Menschen demotivieren, indem wir sie nur auf ihre Schwächen reduzieren. Wir wissen, dass Menschen durch Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten lernen, auch ihre Schwächen zu überwinden. Und das geht eben nur, indem wir ihnen aufzeigen, was sie alles schon können. Das gibt Kraft, Auftrieb und Vertrauen darin, auch Dinge zu schaffen, die schwerfallen.

Wir selbst wissen: Dinge, die wir gerne tun, gehen uns viel leichter von der Hand. Spaß und Leidenschaft für das was wir tun, entscheiden darüber, ob wir gut oder schlecht sind.

Ob ein Kind nach 4 Monaten Schule das H innerhalb der Linien schreiben kann, jedenfalls mit Sicherheit nicht. Dafür brauche ich kein Pädagogikstudium, sondern nur gesunden Menschenverstand.

3 Gedanken zu “Run free, kleiner Drillinstructor

  1. Mich wundert, dass die Lehrkraft bzw. Schule keine andere Feedback-Kultur pflegt. Lehrer lernen dies heutzutage anders. Ich schlussfolgere daraus: entweder ist die Lehrkraft eines älteren Semesters, unbelehrbar oder aber die Schule bzw. das Curriculum sieht das so vor. Fakt ist, und da stimme ich Dir zu: hier stimmt etwas nicht. Schade.

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  2. Danke für deinen Kommentar, lieber M.H.. Mein Eindruck ist tatsächlich, dass hier lediglich auf reduzierte Informationsweitergabe wert gelegt wurde, ohne darüber Nachzudenken, welche Wirkung dies erzeugt. Um den Arbeitsaufwand so gering wie möglich zu halten, macht man keine ausführliche Leistungsbeurteilung mit Stärken und Entwicklungsfeldern (so wie ich es am Ende des Schuljahres erwarte), sondern lediglich im multiple Choice Prinzip angelegte Übersichten.
    Dass dies jedoch bei Eltern auf große Verunsicherung stößt und unter Umständen in endlosen Lernschleifen endet, sollte im Voraus durch die Schule antizipiert werden. Leider höre ich diese und ähnliche Geschichten derzeit aus einigen Ecken. Und sie sind leider alle ähnlich. Denn ich kenne gerade recht viele Erstklässler unterschiedlicher Schulen in unserer Umgebung 😉 Scheinbar stehen auch die Lehrer unter Leistungsdruck. Denn ich bin sicher, dass sie es anders lernen und im Grunde auch besser wissen. Curriculum, Leistungsdruck und völlig überfüllte Klassen könnte ich mir als Teil des Übels vorstellen. Denn in 1:1 mit den Lehrern haben sie viele wertvolle Ansätze, sind aber wahrscheinlich selbst meist Opfer des Systems.

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  3. Gab es denn einen Erwartungshorizont? Man sollte davon ausgehen, dass die Bewertung auf Kompetenzfeldern beruhen. Idealerweise gibt man Schülern (und Eltern) eine entsprechende Übersicht mit. Somit wissen diese genau, was das Kind bereits kann und was noch nicht. Auch der Lehrer erhält dadurch eine Übersicht. Leider wird dies noch viel zu selten praktiziert, da man fälschlicherweise davon ausgeht, dass der Aufwand sich nicht lohnt. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall, denn Transparenz und das Wissen um die eigenen Kompetenzen sind das A und O.

    Aber du sagst es schon selbst: der Leistungsdruck bei Lehrerin steigt leider auch ins Unermessliche. Und leider gibt es noch viel zu oft schulinterne Vorgaben, die nicht auf dem neuesten Stand sind, die der Lehrer aber so umsetzen muss.
    Das System hakt an allen Ecken und Enden. Aber solange vom grünen Tisch entschieden wird, wird sich das nicht ändern.

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